Post #159: Die alten Leiden des nichtmehrjungen D.
11 Nov. 2024
Ein Geist geht um in Europa—es ist der Geist des Nationalen. Und besonders in Deutschland gibt das, wie sollte es anders sein, vor allem Anlass zu verzweifeltem Händeringen. Aus Sicht der politisch-bewusst-korrekten Fraktion ist wohl der Blick geradeaus in den Spiegel aufgrund der Tiefendimension Richtung 1933 keinem Deutschen wirklich zuzumuten; also schielt man chronisch nach rechts und beschwört den drohenden Untergang, als lieferten sich das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold und die SA seit neunzig Jahren ununterbrochene Straßenschlachten Unter den Linden und am Kudamm. Dabei sieht die Sachlage seit längerem ganz anders aus.
I
In der Außensicht mag ja immer wieder die Furcht anklingen, es nach wie vor mit Hunnen zu tun zu haben; aber liebe Landsleute, wissen wir nicht ziemlich genau, wenn wir ehrlich sind, dass die bezeichnendste Weise, in der diese Republik mit sich zu kämpfen hat, viel mehr damit zu tun hat, in der Europaliga nicht immer vorne zu landen, wenn es darum geht, wer mal wieder am unvorteilhaftesten dasteht? Das fängt, wenn man aus der Ferne kommt, schon am Flughafen in Frankfurt an, dem unsäglichen „Fraport.“
Sebastian Haffner hat es einmal auf die traurig-triftige Formel gebracht, er sei nun einmal Deutscher. Das ist gut getroffen. Kein Erbe, das beglückt und auch eines, das in der Gegenwart immer wieder enttäuscht; aber man wird eben hineingeboren, da kann man nichts machen. Fairerweise sollte man auch nicht zu übertrieben hadern. Deutsche Schulen waren in der noch greifbaren Vergangenheit tatsächlich einmal ziemlich gut, und man hätte es insgesamt trotz aller Leidmomente auch schlechter treffen können in der Geburtslotterie. (Afghanistan und Nordkorea fallen mir spontan ein, aber da gibt es sicher noch ein paar mehr, wenn man sich die Mühe einer Aufstellung machen wollte).
Stolz, sagen Sie? Wie anderer Länder Leute auch, ganz selbstverständlich? Bitte keine Scherze, die Lage ist ernst. Von wegen selbstverständlich! Wenn schon deutsch, dann ein bisschen mehr Schopenhauer, wenn ich bitten darf. Ich zitiere aus seinen köstlichen Aphorismen (die Behandlung der ritterlichen Ehre verdient ebenfalls besondere Beachtung): „Jede Nation spottet über die andere, und alle haben recht.“ Klingt fast nachkriegsdeutsch und war doch schon gute hundert Jahre früher. Das könnte zu denken geben.
Soll ich weitermachen? „Die wohlfeilste Art des Stolzes ist der Nationalstolz. Denn er verrät in dem damit Behafteten den Mangel an individuellen Eigenschaften, auf die er stolz sein könnte. Jeder erbärmliche Tropf, usw.“ Ob man unserem König Arthur in dieser Heftigkeit folgen will oder nicht, die Frage ist jedenfalls berechtigt, wie prächtig die Hähne eigentlich sind (keine Beleidigung, man denke an die gallischen, denen die Élysée einen eigenen Onlinetext widmet, auf deutsch!), die auf den diversen nationalen Haufen besonders laut krähend herumstolzieren. (Auch das keine bloße Beleidigung, sondern einem Ausspruch Bismarcks über Eugen Richter entlehnt.) Zu den Franzosen sei nur noch gesagt, dass sie sich im Gegensatz zu den Deutschen zu präsentieren wissen; da gäbe es in der Tat viel zu lernen.
Dass man sich als Deutscher ausgerechnet von den Engländern einiges abgucken könnte (wie mancher meint), hätte Schopenhauer besonders schroff zurückgewiesen. Er sprach („mit gebührender Verachtung“) von der „stupiden und degradierenden Bigotterie dieser Nation.“ Wiederum muss man ja nicht gleich so weit gehen, um beim Vorbildcharakter der Briten in Sachen Nationalstolz seine Bedenken anzumelden (geschweige denn dem der Amerikaner, oder für ganz verwegene, wie zum Beispiel Michael Klonovsky in seinen Helden-Betrachtungen, dem der Israelis—er denkt dabei allen Ernstes an die IDF, als Inspirationsmodell für Deutschland!).
Was die Engländer angeht (die Amerikaner auch, aber das lasse ich hier außen vor, weil man schließlich nicht alles auf einmal behandeln kann) hätte ich immerhin einen gewissen persönlichen Erfahrungsschatz einzubringen. Ich habe nämlich auf dieser unwirtlichen Insel drei geschlagene Jahre lang leiden müssen an den Konsequenzen dieses angeblich so vorbildhaften britischen (genauer genommen englischen) Selbstverständnisses, was auch den spätgeborensten und anglophilsten jungen Deutschen je nach Bedarf zu einem virtuellen Nazi hochstilisieren kann (zumindest ging das vor dreißig Jahren noch ganz automatisch).
In meiner schwarzen Lederjacke (Kensington Market!) und mit burgundrotem Paisley-Schal sähe ich aus wie ein Kadett der alten Luftwaffe, meinte einer meiner Tutoren anerkennend. Der war ziemlich schwul, und ihm hat die schneidige Aufmachung durchaus gefallen. Dieser vermeintliche Kadettenlook war während meines ersten Jahres in England entstanden, sozusagen in der Fusion. Vorher eher Werther, siehe unten, aber in Kombination mit Brideshead Revisited ergibt sich daraus anscheinend im Schnellkochtopf Oxford auch mal ein fescher Flieger. Die Literatur hat dazu Jahre später Aufschluss gegeben, und zwar in Des Teufels General von Carl Zuckmayer: “Writzky: ‘kesser Junge’ aus Berlin, ein bisschen effeminiert, aber schneidig und elegant.” Evelyn Waugh hatte ich damals allerdings noch nicht gelesen.
Meinerseits habe ich mir das ganze Theater gefallen lassen, nachdem ich schnell erkannt hatte, dass niemals ein Engländer aus mir werden würde. Auf die ständigen Nazianspielungen hätte ich verzichten können, aber wenn schon auf seine Uniformkompatibilität reduziert werden, dann wenigstens „the sexy German“ (ich zitiere) und nicht die andere, deutlich weit verbreitetere und weniger schmeichelhafte Variante. Mir war jedenfalls klar, dass weitere Zugeständnisse an meine Herkunft nicht zu erwarten waren, und das hat mich tief geprägt mit Anfang zwanzig. Natürlich hat es auch dazu geführt, dass ich mir verstärkt Gedanken dazu machen musste, wo ich denn nun wirklich herkomme oder hingehöre. („Where are you from?“ ist bis heute ein Frage, die mich schreckt, weil ich darauf keine gute, einfache Antwort zu bieten habe, denn um bloße Herkunft geht es ja dabei nicht, sondern um Zugehörigkeit.)
Schon durch eine Berliner Kindheit (Kinderladen!) und Jugend (dezidiert West, damals noch amerikanischer Sektor) und die entsprechende Schule (ein großer Glücksfall für mich) war die Kluft zwischen mir und meiner angeblich deutschen „Heimat“ denkbar schwer zu überbrücken. Die Bundesrepublik, das war für mich ein unansehnlicher Pass (mit ähnlich hässlichen Nummernschildern und dergleichen mehr) und eine um Anstand bemühte Verfassung, die mit einer schrecklichen Geschichte und einem verzweifelten Wiedergutmachungsprojekt auf engste verwoben war. Die DDR derweil entschieden fremder als etwa Frankreich oder Italien. Daher hieß es für mich gleich nach dem Abitur, damals noch mit 19, Flucht nach vorn und good-bye to all that: erst England, dann USA und Kanada, nebst einer Reihe von weniger naheliegenden Stationen als bewusster, geradezu bekennender Exilant, dieser Tage in Thailand.
Ich bin dann auch tatsächlich nie wieder freien Willens zurückgezogen, nur einmal kurz ein paar Monate im Zuge einer tiefen Lebenskrise Anfang vierzig (Verluststichworte Frau, Job, Geld, Zuhause). Meine Eltern waren Gold wert in dieser Zeit (auch sonst), und es tut mir ehrlich leid, wenn ich ein Heimatgefühl verletze, dass sie durchaus pflegen, trotz entschieden kosmopolitischer 68er-Gesinnung. Der Vater meiner heißgeliebten ersten Freundin hat es einmal auf den bestechenden Punkt gebracht, Marx sei schließlich auch Preuße gewesen, was mich damals sehr beeindruckt hat. (Dass er auf eigenen Antrag ausgebürgert wurde, blieb damals unerwähnt.) Später war es Otto Braun, ganz Sozialdemokrat, der für sich in Anspruch nahm, in Berlin preußischer regiert zu haben denn je. (Meine eigenen Eltern sind allerdings keine Preußen, sondern aus dem Rheinland und aus Franken, aber schon seit fünfzig Jahren in Berlin.)
Der mir ungemein sympathische „Schwiegervater“ war zu jener Zeit Friedensforscher an der TU, ganz APO und klandestine SEW-Treffen, und nur knapp am Berufsverbot vorbeigekommen. Außerdem mit einer Amerikanerin verheiratet und eben mit einer entzückenden Tochter gesegnet, die mir bis heute nicht ganz aus dem Sinn kommt. Angefangen hatte es für ihn allerdings etwas anders, nämlich geboren 1940 als entfernter Spross eines brandenburgischen Raubrittergeschlechts (kein von), nach dem sogar ein einschlägiger Zitadellenkeller benannt ist, in Spandau bei Berlin. In jüngeren Jahren hatte er bei Adenauer gestanden und auch seinen Wehrdienst ganz selbstverständlich geleistet, wiewohl alles andere als ein kriegerisches Gemüt. Und die herrliche Wohnung, oder besser bescheidene Villenetage, war in Lichterfelde West nicht unweit der ehemaligen Kadettenanstalt—dies allerdings historisch-kulturelle Zusammenhänge, die mir erst viel später bewusst geworden sind. Mir hat nur das Umfeld besonders gut gefallen, ganz intuitiv, gerade in Verbindung mit der linken Westberliner Szene.
Ich wäre zu dieser Zeit nie auf den Gedanken gekommen, mich etwa mit dem jungen Werther zu identifizieren. Kannte ich nämlich gar nicht, weil nie gelesen. Der Aufzug, in dem ich zu meinem Collegeinterview in Oxford erschienen bin, damals noch mit der Bahn über Hoek van Holland und Reading—eine Riesentour von Berlin aus—hätte ich wohl als irgendwie hippie-nah verstanden: ein violetter Parka, von meiner Oma nach dem Original meines Vaters von ungefähr 1965 geschneidert, ein kanariengelber Schal (Guatemala), sehr helle 501s, braunrote Doc Martens Wanderschuhe, hennarote Haare, vorne länger, und dergleichen Späße mehr. Dazu allerdings im Winter ein langer schwarzer Herrenmantel mit Samtkragen—aus der „Garage“ in Berlin, zum Kilopreis. Erst als ich Werther endlich gelesen habe, ist mir ein überfälliges Licht aufgegangen.
Überhaupt Goethe. Habe auf Gründgens’ Spuren Mephistopheles gespielt unter einem ambitionierten und versierten Theater- und Politiklehrer, meinem Abiturmentor könnte man sagen, der im besten Sinne kaum deutscher hätte sein können—aber auch ein Jahr in Chicago studiert hatte und uns im Leistungskurs Politische Weltkunde unerschrocken Milton Friedman vorgesetzt hat, hart an der Grenze zum Skandal damals, um 1990. (Wie hätte er anders heißen können als Pfeifer?) Beim Schultheater der Länder, wo wir mit unserem Faust dabei waren, kam er weniger gut an: „zu professionell,“ hieß es da, kein Witz. Der Preis ging an ein sentimentales Holocauststück, in dem der Theaterlehrer meinte, selbst die Hauptrolle spielen zu müssen. Ein echter Skandal, der aber anscheinend nicht als solcher wahrgenommen wurde. So it goes.
Ich könnte weitermachen damit, wie ich mich fühle am Gipfel des Viktoriaparks in Kreuzberg, wenn ich vor Schinkels Vermächtnis stehe, oder wie mir zumute ist angesichts der schlafenden preußischen Löwen auf dem Invalidenfriedhof oder in Alt-Lietzow, im brachialmodernen architektonischen Umfeld des Richard-Wagner-Platzes. Ich werde ergriffen, wenn ich mal wieder lese, was auf dem Sockel des Winterfeldtgrabs steht: „Er war ein guter Mensch, ein Seelenmensch; er war mein Freund“—ein Ausspruch des alten Fritz persönlich. Wenn das deutsch ist, dann bitte; die tiefen Wurzeln und vielleicht auch die Krone meiner inneren deutschen Eiche stelle ich nicht zur Disposition. Die Frage ist nur, was der Eichenhain mit der deutschen Gegenwart zu tun haben soll. Nicht viel, würde ich sagen, was man bedauern mag; aber Fakt ist Fakt, wie der Neudeutsche sagt. Vielleicht könnte man es auch amerikanischer schreiben.
Für diese empfindlichen Verluste gibt es Gründe, die man nicht einfach wegwischen kann, weil sie einem ungelegen kommen. Die Herren von Stein und Hardenberg stehen auch dieser Tage als altehrwürdige Skulpturen vor dem ehemaligen preußischen Landtag (heute Abgeordnetenhause von Berlin) und erinnern an alte Zeiten. Das ist gut so und gefällt mir. Die Generäle York, Blücher und Gneisenau (von Christian Daniel Rauch) wurden zwar an den Rand der Linden vertrieben, aber da wirken sie stiller und fast noch würdevoller. Ich war auf manchem Altberliner Friedhof, auch dem besonders eindrucksvollen der Märzgefallenen von 1848 (nicht 1933); ich habe Mommsen und Virchow in dieser Form gehuldigt, und ich würde mir den deutschen Freisinn zurückwünschen, auch als Partei. Das oft ungerecht behandelte Kaiserreich und sein unglücklicher zweiter Wilhelm kommen bei mir relativ glimpflich weg, selbst mit Bismarck, wenn es sein muss. Aber von der Schuldfrage ganz abgesehen (kürzlich von mir bei Diplomacy & Statecraft behandelt) stehen wir dann halt ab 1914 vor dem Mörser, und wer die Urkatastrophe auch immer zu verantworten hat, Deutschland konnte sich davon nie wirklich erholen, zumal wenn man die zweite Runde als eine Fortsetzung mit noch unerträglicheren Ursachen und Mitteln auffasst, wozu ich neige.
Die übrigen Entwicklungen sind bekannt und brauchen hier nicht aufgearbeitet zu werden. Aber was folgt daraus? Daraus folgt zum Beispiel, gerade in Berlin, dass ich von meinen schlafenden Löwen keine fünfzig Meter weit gehen kann, ohne sozusagen mit dem Kopf auf irgendeinen Horror zu stoßen, der mir alles zuschanden macht, sei es durch die architektonischen Lücken und Monstrositäten, die wie ein Aussatz auf der ehemals zerbombten Stadtlandschaft liegen, sei es durch diesen oder jenen scheußlichen historischen Bezug, oder sei es durch die fragwürdigen Blüten, die das alles bis heute treibt, ob nach links oder rechts—wie eine alte Tankstelle aus vorökologischer Zeit, wo zwar seit langem etwas anderes steht, aber dem Boden nach wie vor nicht ganz zu trauen ist, was man dem Gras und den Blumen auch ansieht, wenn man etwas genauer hinsieht. (Womit ich nicht etwa gesagt haben will, dass den Deutschen nicht zu trauen sei, weil ein ewiger Nazi in ihnen schlummert wie Barbarossa im Kyffhäuser, sondern nur, dass dort alles nach wie vor durch die bekannte Giftmasse verzerrt wird.)
Der geschichtsbewusste Berliner hält das für normal oder ist stolz auf die Vielschichtigkeit dieser zahllosen Grauenskomplexe, das heißt, auf die Gesinnungsmaterie, die sich aus diesen Konstellationen ableiten lässt. Anders wäre es auch kaum auszuhalten, wenn man ein bisschen Sensibilität mitbringt. Eine auch nur irgendwie erkennbar klassische Haltung müsste man sich hingegen angesichts der realen Umstände zu einem derart artifiziellen Kartenhaus zusammenbasteln, dass es keinem Windhauch gewachsen wäre, geschweige denn einem Berliner Spaziergang in beliebiger Länge und Richtung.
Dass sich die ziemlich behäbigen deutschen Nationalfarben durch Zusatz des Eisernen Kreuzes ungeheuer aufwerten ließen, zumindest ästhetisch, ist mir schon vor längerem aufgefallen. Dieser Tage flaggen anscheinend die Krethi und Plethi so. Es ist durchaus richtig, dass dieses Kreuz von Schinkel stammt und ein Symbol der Freiheitskriege war, und auch dass dabei immer das Soldatische im Vordergrund gestanden hat, weswegen die Bundeswehr ganz zu recht unter diesem Symbol operiert, wenn auch in stark stilisierter Form, was ebenfalls passt. Wer allerdings diese Tradition beschwört, der sollte dann auch das entsprechende Eisen und Kreuz mitbringen und wenigstens ein bisschen Schinkel sein, nicht nur Hinkel, wenn er nicht lächerlich wirken will. Bratwurstallüren reichen nicht aus, selbst in Thüringen.
Ich empfehle in diesem Zusammenhang einen Blick auf das Titelblatt des Spiegels vom 31. Mai 1961 (Nr. 23). Da ist ein gewisser Erich Mende zu bewundern, und zwar mit entnazifiziertem Ritterkreuz auf einem Staatsempfang („Die Türken wollen Kerle sehen“). Von Mende mag man halten, was man will; unumstritten war dieser Auftritt nicht. Aber keiner hat gemeint, dass Mende etwa nicht glaubwürdig war in dieser Rolle. Also: wer Kerl genug ist, sich neben Mende ins Bild zu stellen und dabei nicht vor Scham im Boden zu versinken, der mag bitte dieses martialische Erbe bemühen. Wem dieser Streich nicht gelingt, der sollte sich besser zurückhalten. Auch was die Soldaten selbst angeht, hätte ich kein Problem damit, wenn die alten Himbeerstreifen wieder Einzug hielten; aber diese Hosen muss man dann auch füllen können und sollte nicht aussehen wie ein übergewichtiger Postbote der späten 70er Jahre oder ein bärtiger Wilder.
Dann wohl besser doch kein Eisernes Kreuz? Wie Sie meinen, dann gehen wir stattdessen ein paar Schritte in die andere Richtung, zum Reichstag, inzwischen wieder Wahrzeichen der Republik, sowohl nach innen wie nach außen. So weit so gut; das ganze hätte etwas werden können—zum Beispiel mit der Kuppel von Santiago Calatrava. Aber nein, zu teuer, hieß es damals, und letztlich auch zu elegant. Folgerichtig galt der Zuschlag einem verkopften Tankstellendesign von Richard Rogers. Diesen Entwurf hat man dann gottseidank weniger folgerichtig umgesetzt und den Reichstag selbst zumindest nicht grundentstellt (das Umfeld steht auf einem anderen Blatt).
Aber auf welchen Nenner hat man das Herzstück der Berliner Republik denn gebracht am Ende, wenn nicht auf diesen: das höchste der Gefühle ist ein großnamiger Architekt, der den Parlamentariern das Volk der Welt zum Flanieren und Kaffeetrinken auf die Köpfe setzt! Einfach großartig! Einblick nach unten nunmehr gar nicht möglich, es geht nur um den Ausblick, der schließlich viel wichtiger ist beim i-Punkt-Tourismus. Und das ist der größte Publikumserfolg in der parlamentarischen Geschichte der Bundesrepublik Deutschland!
Das Stadtschloss sei doch schön und dabei trotzdem (mehr oder weniger) ein Gegenwartsprojekt, sagen Sie? Als Kulisse in der Tat nicht ganz schlecht, zugegeben. Aber wenn man den Fehler begeht, in die Innenhöfe oder gar die Räume zu gucken, sieht man schnell, wie wesensfremd das ganze dem deutschen Gegenwartsgeist eigentlich ist. Und wenn man dann in aller Unschuld in die Katakomben der neuen U-Bahnstation hinuntersteigt, lauert auf einen nicht nur der zu erwartende Untergrund, sondern ein geschmacklicher Abgrund der gröbsten utilitaristischsten Sorte, wie bei Berliner Verhältnissen dieser Tage leider routinemäßig, wenn überhaupt mal etwas funktioniert. (Zum Beleg, dass es auch anders geht, verweise ich auf das Pendant in Bangkok, wo auch kürzlich in Nähe des alten Palastes eine neue U-Bahn gebaut wurde—werde aber mit diesem Hinweis in Berlin partout nicht verstanden.)
„Polnische Verhältnisse,“ das war mal der Gipfel der deutschen Verächtlichkeit gen Osten. Heute muss man mit historischer Beschämung und akut peinlicher Berührung anerkennen, dass sich die Verhältnisse eher umgekehrt haben und dass man zum Beispiel von Krakau einen ungleich besseren Eindruck gewinnt als von der alten Reichshauptstadt, die nie wirklich mehr war als aufgeplusterte Provinz. Federn sind mir ganz recht, aber in diesem Sinne ist die Inszenierung in Wien schon immer viel besser gewesen, siehe als pars pro toto den „hochbarocken“ Michaelertrakt von 1890. Wenn man Herzensdeutscher auch in Wien sein kann, als der deutschen Hauptstadt schlechthin, dann bin ich gerne dabei; ansonsten weniger.
II
Auf meine patriotischen Misstöne, die mancher als wenig witzig, ziemlich unangemessen oder womöglich nachgerade peinlich empfinden mag, würde ich die folgende Antwort erwarten, sofern jemand überhaupt dazu bereit ist, sich ernsthaft darauf einzulassen:
Nun bist Du in der Welt inzwischen weit genug herumgekommen, um ganz genau zu wissen, wie es anderswo zugeht. Du hast ja selbst bei den Engländern angefangen und darüber geklagt, wie es Dir da ergangen ist. Nun wirst Du uns hoffentlich nicht die Amerikaner als den Gipfel des menschlichen Geistes präsentieren, während Du mit uns so ungnädig abrechnest. Jedes Land und jede Kultur hat Schwächen, das ist bei uns genauso wie anderswo. Du bist seit langem alt genug: hab Dich gefälligst nicht so und hör auf damit, bei uns so zu hadern; das tut weder Dir noch uns gut. Wir sind schließlich auch nur Menschen.
Ein gutes Plädoyer, das mir selbst fast die Sprache verschlägt und die Schamesröte ins Gesicht treibt, auch wenn das mit der Abrechnung nicht ganz stimmt, weil es eher um einen Leidensbefund geht.
Zum besseren Verständnis mache ich also einen Schritt zurück. Man stelle sich vor, man steht als potentieller Erbe vor einem Testament, in dem einem eine erschütternde Schuldenlast vermacht werden soll. Die Ursachen liegen lange zurück und haben mit der Gegenwart nicht viel zu tun; die Schuldigen war von den Unschuldigen schon damals nicht ganz so leicht zu trennen, wie mancher meinte. So oder so war es eine ebenso komplexe wie entsetzliche Fehlentwicklung, die mit deutscher Gründlichkeit (und nicht unerheblicher österreichischer und anderweitiger Beteiligung) einen regelrechten Gebirgszug an finstersten Belastungen auf ewig am Horizont verankert hat.
Die Zinsen sind heute vielleicht tragbar, aber eine regelrechte Rückzahlung bleibt unmöglich. Man müsste sich also zeitlebens damit abfinden, dass dieses Mordor nie ganz aus dem Bild verschwinden wird, dass man im Zweifelsfall auch im Ausland immer wieder damit in Verbindung gebracht wird, wie wenig man auch persönlich damit zu tun habe mag, und dass auch eine erfolgreiche Pilgerfahr gen Mount Doom, samt Zerstörung des unseligen Ringes, daran nicht viel ändern kann. (Dass man, um bei diesem Metapher zu bleiben, mehr als Hobbit dasteht denn als Elfe oder ritterlicher Menschenheld, passt ebenfalls gut ins Bild.)
Soweit die Ausgangslage. Stünde man nun vor der Entscheidung, dieses Erbe entweder anzunehmen oder nicht, welche Frage würde man dann tunlichst an den Testamentsvollstrecker richten? Klar, die Frage danach, was in diesem schwierigen Vermächtnis denn sonst noch so haben wäre, um einen für das Elend einer so unerträglichen Erbschuld zu kompensieren. Die Fragestellung ist somit gar nicht, ob es in Deutschland wirklich übler zugeht als anderswo, sondern inwiefern ein Mensch, der irgendwie die Wahl hat, sich vernünftigerweise darauf einlassen würde wenn er die Bilanz zieht.
Nun hängt das Bild natürlich reichlich schief. Dieses Gefühl der Verschuldung legt man sich nämlich teilweise selbst auf, und es gilt nicht für alle Deutschen, sondern in erster Linie für die Eingeborenen, die sich als tiefenverwurzelte Mitglieder dieser Schicksalsgemeinschaft verstehen, somit eben gerade nicht für diejenigen, die vielleicht im wörtlichen Sinne vor der Entscheidung stehen, ob sie sich als Deutsche einbürgern lassen wollen oder etwa nicht. Umgekehrt haben diejenigen, die in den Schlamassel am tiefsten verwickelt sind—nicht weil sie unbedingt eine besondere familiäre Schuld zu tragen hätten (wenn man überhaupt im Leben etwas zu büßen hat, was man nicht selbst verschuldet hat), sondern weil sie sich eben geschichtlich orientieren—in der Regel gar nicht die Gelegenheit, sich vor diesem Erbe zu schützen. Keiner fragt, wo man geboren werden will, und ich gestehe gerne zu, dass man da mit der deutschen Staatszugehörigkeit international vergleichsweise gut dasteht. Aber darum geht es nicht, sondern um eine Frage der Befindlichkeit: eben warum ich mich an Deutschland an Dingen stoße, manchmal bis zum Abscheu, die mir anderswo ziemlich egal wären.
Es gäbe auch noch zu ergänzen, dass sich die Gemütslage Ost in dieser Hinsicht deutlich von der des Westens (jedenfalls des Westens in dem ich großgeworden bin) zu unterscheiden scheint. Es handelt sich dabei zugegebenermaßen eher um einen anekdotenhaften Eindruck meinerseits, aber mich deucht, dass die Erben der DDR bei allem Bewusstsein für den Kaninchenstallcharakter dieses Staates (ich verweise zum Beispiel auf Michael Klonovsky) insgeheim trotzdem das Gefühl davongetragen haben, das bessere Deutschland gewesen zu sein. Schließlich war man aus Sicht Ost der Nachfolgeverein des kommunistischen Widerstandes, stand im Ostblockvergleich relativ erfolgreich da und war außerdem das Geburtsland Marxens. Und der vielbeschworene Gemeinschaftssinn da, und sei es aufgrund des geteilten Elends! Es ist also offenkundig, dass man die Sache aus ganz unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten kann, und es geht mir nicht darum, die anderen Perspektiven zu kritisieren oder gar richtigzustellen, sondern nur darum, mein Unbehagen zu erklären, wenn es mal wieder deutsch wird. (Womit nebenbei auch die Möglichkeit eingestanden sei, dass es sich dabei, ganz nach Freud, vor allem um einen psychologischen, womöglich einen nervösen oder gar einen neurotischen Bestand handeln mag.)
Zurück also zum Erklärungsversuch. Man nehme einen deutschen Gegenwartsautor, sagen wir einen begnadeten Verkaufs- und Positionierungskünstler, der vielleicht dieser Tage besonders hoch gehandelt wird, jedenfalls von sich selbst. (Eine bloße Karikatur, mag sein.) Ich höre mir das also an und werde irre dabei, wie er mit der Sprache umgeht. Für mich ist da nicht viel Scharf- oder Tiefsinn zu erkennen, sondern in erster Linie das bedienen von Tagesströmungen, und mich erschleicht der allemal wenig großzügige und womöglich ziemlich ungerechte Eindruck, dass der Betreffende in seinem Leben anscheinend noch kein anständiges Buch gelesen hat.
Gut, da höre ich also jemandem zu, der mir nicht besonders geistreich vorkommt und der Sprache aus meiner Sicht Gewalt antut. Na und? Warum sollte mich das jucken? Dass die Welt geradezu aus den Fugen bricht vor derlei misslichen Publikumserfolgen, ist weder neu noch besonders bedenklich; schließlich bestimmt am Mainstreammarkt die Masse, und die orientiert sich eben an der Mitte der Normalverteilung. Das Pendant dazu auf englisch ist jedenfalls um keinen Deut besser, sondern im Zweifelsfall noch niveauloser, weil der Markt noch grösser und massenorientierter ist und die Glockenkurve insgesamt noch unvorteilhafter, bei allem was die Amerikaner an hervorragenden Ausnahmen zu bieten haben. Jenseits des großen Teiches würde ich also müde mit den Achseln zucken statt mich aufzuregen. Warum also im Umgang mit den Deutschen nicht genauso? Haben meine eigenen Pappenheimer etwa weniger Rücksichtnahme verdient?
Ich räume ein, dass es unfair sein mag, von den Deutschen in dieser Hinsicht besonders viel zu verlangen, und auch unweise, weil es fast unweigerlich dazu führt, immer wieder in die Zwickmühle zu geraten, mehr zu erwarten und dann weniger geboten zu bekommen, mit entsprechend bitterer Enttäuschung. Wäre es nicht klüger und menschlicher, mir und anderen das zu ersparen? Mag sein, aber wie gesagt: die Deutschen sind für mich nicht wie andere, und das nicht etwa, weil sich ihr Wesen besonders eignet, die Welt daran genesen zu lassen, wie man einmal meinte, sondern weil es eben so viel auszugleichen gibt.
Für mich ist Mordor leider immer irgendwie gegenwärtig, so sehr ich mich auch dagegen sträube und wehre, und ich wüsste gerne, woher denn die oben skizzierte Gegensumme bitte aufzubringen sei ohne nennenswerte Beteiligung des deutschen Geistes? Wenn wir das nicht mehr können, was dann bitte? Das Schneidige ist seit langem erledigt, und vielleicht mit gutem Grund; und ernsthaft die Dichter und Denker zu beschwören, die wir einmal gewesen sein sollen, taugt bestenfalls noch zur Satire. Wenn es dann auch noch oberflächlich wird, somit auch noch der letzte Seelenbestand ausfällt, was bleibt dann übrig, außer Bier und Autos und Fußball und kriegsvernarbten Städten von denen keine einzige als echte Metropole durchgeht?
Was soll das wieder, wird man mir entgegnen, das ist doch alles anderswo genauso! Aber das stimmt eben nicht. Die Engländer haben ihr London, die Franzosen ihr Paris, die Italiener haben das ewige Rom, die Spanier Madrid, und wenn es in deutschsprachigen Landen dazu überhaupt ein entferntes Äquivalent gibt, dann höchstens in Österreich, weswegen ich Wien ja bereits zur eigentlichen deutschen Hauptstadt ausgerufen habe (historisch keine sehr originelle Sichtweise, von der allerdings in letzter Zeit, also seit ein paar hundert Jahren, nicht mehr viel zu hören war). Und keines dieser Länder hat, bei allen historischen Ausfällen, eine vergleichbar gründlich durchgeführte Katastrophe zu verantworten wie unseres. Wenn ich dann mir dann statt des Geistes Goethes die Geistesnöte eines Bestsellerautors anhören muss, der sich auch noch an der Restmasse unserer Sprache vergeht, dann vergeht es mir.
Es mag bei dieser Empörung auch noch ein weiteres, verdeckteres Motiv im Spiel sein. Vielleicht stört mich an der Verflachung besonders der Umstand, dass der idealisierende Drang zum Wahren, Guten und Schönen in der deutschen Kulturgeschichte tatsächlich einmal eine relativ prägende Rolle gespielt hat, die sich nicht auf bildungsbürgerlichen Dünkel reduzieren lässt, der mir selbst ein Dorn im Auge ist. Edel sei der Mensch, hilfreich und gut—nicht eitel auf seine Vorteile bedacht, oder „betroffen“ und ideologisch moralisierend!
Ich empfinde es wohl als schmerzlichen Verlust, wenn dieses romantische Erbe weitgehend entsorgt worden ist, weil man entweder das Zeug dazu nicht mehr hatte in der Ruinenlandschaft nach dem großen Bluten der Kriege, oder vielleicht weil man derlei Gedankengänge geradezu für die Kriege verantwortlich zu machen meinen musste. (Werther im Krieg: das muss man sich mal vorstellen!) Dies nach der Milchmädchenrechnung, dass angesichts der durchaus idealistischen Orientierung vieler Nazis die Gegenreaktion dann besonders nüchtern, ja geradezu fade ausfallen sollte. Pustekuchen, sage ich dazu. Wenn man das Problem nämlich so angeht, dann kommt zur historischen Beschämung am Ende noch die aktuelle, eben wie diagnostiziert. Dazu ein herzliches nein danke. Wenn das Erbe nur um diesen Preis zu haben ist, dann schlage ich es lieber aus.
Bei allem Hadern geht es mir trotzdem nicht darum, ein Land und seine Leute schlecht zu reden, die sich seit langem von anderen genug beleidigenden Unsinn haben anhören müssen über die vermeintlichen Hunnenverhältnisse, die bei ihnen angeblich herrschen. Auch davon habe ich die Nase voll, und es würde mich nicht nur reuen, sondern beschämen, wenn ich so verstanden würde, als wollte ich in diesen selbstgerechten Chor der anderen einstimmen. Ich bin keiner dieser anderen; dazu stecke ich selber viel zu tief im deutschen Morast (der ja auch Dünger sein kann) und muss damit leben, was mein Geruchsorgan auch immer davon halten mag. Aber sein Seelenleid muss man wenigstens klagen dürfen: wenn selbst das nicht mehr ginge, dann wäre es wirklich vorbei mit dem deutschen Wesen in einer Form, mit der ich mich noch irgendwie identifizieren kann, mit wieviel Unbehagen auch immer.
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